Eine Woche auf der Straße
Was Marion Bönsch, Arbeitsdirektorin und Geschäftsführerin der Deutschen Shell Holding GmbH, in der Tagesaufenthaltsstätte für wohnungslose Menschen (TAS) der Diakonie in Hamburg erlebte und wie sich ihre Erkenntnisse auf das Personalwesen übertragen lassen.
Dass sie zunächst Vorbehalte und Berührungsängste gegenüber obdachlosen Menschen hegte, ahnt man nicht, wenn Marion Bönsch mit leuchtenden Augen und voller Begeisterung von ihren Erfahrungen auf der „anderen Seite“ berichtet. Eine Woche lang tauschte sie ihren vertrauten Büroalltag als Personalchefin gegen den einer „Praktikantin der Sozialarbeit“ auf der Straße ein und stellte sich damit nicht nur ihren Vorurteilen, sondern auch einer für sie bislang unbekannten Welt.
„Dass ich ein Thema mit Obdachlosigkeit habe, war mir lange klar. In meiner Familie galt immer: ‚Du musst arbeiten für dein Geld‘ und Bettlertum war bei uns stigmatisiert. Ich merkte auch, dass mir meinen Kindern gegenüber die Antworten zu diesem Thema fehlten“, begründet Marion Bönsch ihre Wahl für die Tagesaufenthaltsstätte für wohnungslose Menschen (TAS) im Rahmen ihres SeitenWechsels. „Ich habe gedacht: Okay – ich habe da ein Thema und dann sollte ich mir das vielleicht auch mal angucken. Ich glaube, ein SeitenWechsel funktioniert auch nur, wenn es dich außerhalb deiner Komfortzone trifft.“
Eine intensive „Hands on“-Woche
Mit der ersten Arbeitswoche 2019 wurde dieses Vorhaben Realität für Marion Bönsch: Sie trat ihren Dienst als „Praktikantin der Sozialarbeit“ für obdachlose Menschen bei der Diakonie in Hamburg an. Den ersten Tag verbrachte sie in der TAS an der Bundesstraße, einer Einrichtung, in der Menschen ohne Obdach etwas zu essen und zu trinken bekommen, Gespräche führen, duschen, Wäsche waschen, ihre Post abholen oder auf ihre dort verwalteten Konten zugreifen können. An der Rezeption vergab sie Essensmarken und Post, führte erste Gespräche. Die Begegnungen seien vom ersten Tag an sehr niedrigschwellig und intensiv gewesen. „Die Menschen waren sehr offen mir gegenüber und haben mich sofort als Ansprechpartnerin akzeptiert“, berichtet Marion Bönsch – angesichts ihrer eigenen Hemmschwelle positiv überrascht.
Und so begann eine in jeder Hinsicht sehr intensive Woche. Marion Bönsch durfte nicht nur zugucken und mitlaufen, sondern selbst agieren, zupacken, in Interaktion und Kontakt treten. „Das war eine richtige ‚Hands on‘-Woche: Ich durfte überall mitmachen. Das fand ich super!“, schwärmt sie. Ein Blick auf ihren Wochenplan zeigt zudem, wie vielfältig dieses Programm allein durch die unterschiedlichen Stationen ausfiel: Nach dem Tag in der TAS folgten in den nächsten vier Tagen Hospitationen bei der Straßensozialarbeit, in der Krankenstube, dem Krankenmobil, dem Winternotprogramm, in verschiedenen Containereinrichtungen von Caritas und Diakonie, in der Obdachloseneinrichtung Pik As und der Redaktion von Hinz&Kunzt. Eine Fahrt mit dem Mitternachtsbus holte sie aus organisatorischen Gründen im Februar nach.
„Es ist eine parallele Welt“
Am zweiten Tag stand auf dem Plan, eine Straßensozialarbeiterin zu begleiten. Nach einigen Stunden im Jobcenter Hamburg-Mitte, wo es darum ging, einem jungen Polen beim Ausfüllen zahlreicher Formulare zu helfen und ihm den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt zu erleichtern, begaben sich die beiden in die Innenstadt – zu den üblichen „Platten“. „Es ist eine parallele Welt“, sagt Marion Bönsch. „Du siehst im Alltag vielleicht mal Bettler, aber das sind im Zweifelsfall gar keine Obdachlosen. Wenn Du mit diesem suchenden Blick durch die Gegend läufst, siehst Du ganz andere Dinge – und das geht mir heute noch so.“ Als die Sozialarbeiterin sich im Gespräch in ihrer Muttersprache mit einem obdachlosen Rumänen zu diesem hingehockt habe, habe sie selbst mit etwas Abstand davon entfernt gestanden und gespürt, dass sie für Angst und Spannung bei dem Mann sorgte, eventuell als Polizistin wahrgenommen wurde, berichtet Marion Bönsch. „Dann habe ich mich intuitiv auch hingehockt – und alles war gut.“ Erst im Nachhinein sei ihr klar geworden, wie entscheidend die Begegnung auf Augenhöhe hier – im wahrsten Sinne des Wortes – war.
Wertfreiheit, Akzeptanz und Selbstverantwortung
„Menschen auf Augenhöhe begegnen, wertfrei auf sie zugehen und erst mal einfach nur zuhören, akzeptieren und dem einzelnen seine Selbstverantwortung lassen“, fasst Marion Bönsch ihre Key Learnings aus der Woche zusammen und untermauert sie mit einem weiteren Beispiel: Obwohl es in dieser Woche extrem kalt gewesen sei und sie vielen obdachlosen Menschen, die übrigens in erster Linie Männer waren, das Winternotprogramm nahegelegt hätten, hätten dies etliche abgelehnt, worauf sie selbst mit Unverständnis und Verwunderung reagiert habe. Als sie am nächsten Tag selbst in dieser Einrichtung gewesen sei, um dort die Zimmer zu vergeben, habe sie verstanden, warum. Denn die Menschen kommen dort mit sechs bis acht Leuten in kleine Zimmer, können ihre Sachen nicht wegschließen, viele sind angesichts des dort herrschenden Alkoholverbots schon vorab volltrunken und die Animositäten unter den vielen unterschiedlichen Nationalitäten sind groß. Die Menschen identifizieren sich über ihre Bett-Nummer und werden im wahrsten Sinne des Wortes – auf einer Anwesenheitskarte – abgestempelt. „Das war so entmenschlicht und deprimierend, auch wenn das Angebot natürlich positiv gemeint ist.“
„Wenn jeder erst mal wertfrei auf den anderen zugeht, zuhört, akzeptiert und die Verantwortung da lässt, wo sie hingehört – was wäre die Zusammenarbeit, das Zusammenleben anders!“, transferiert die Personalchefin ihre Erkenntnisse in die Arbeitswelt, in der sie mit Menschen aus 14 Ländern zu tun hat. „Das Ziel ‚wertfreie Begegnung auf Augenhöhe‘ versuche ich mit in meinen Alltag zu nehmen. Das habe ich mir an den Rechner geklebt“, erzählt sie motiviert.
Die Woche habe sie auch genutzt, allen Menschen, mit denen sie zu tun hatte, sehr viele Fragen zu stellen. Allen auch immer die eine: „Was würdest du ändern, wenn du es könntest?“ Überrascht habe sie auf die Antwort des Leiters der Krankenstube für wohnungslose Menschen im ehemaligen Hafenkrankenhaus auf St. Pauli reagiert, der von „betreutem Trinken“ sprach. Dahinter verberge sich die Betreuung alkoholabhängiger Menschen dahingehend, deren Alkoholkonsum beziehungsweise die entsprechenden Promille Schritt für Schritt immer geringer zu dosieren. Ein erster Schritt in die Reintegration also. „Und natürlich – mit unserer Schwarzweiß-Brille und einem strikten Alkoholverbot von jetzt auf gleich kann das ja auch nicht funktionieren. Das wäre ja so, als wenn ich einem Chemielaboranten sage, er solle ab jetzt Financer sein. Ziele müssen realistisch und erreichbar sein“, schlägt die HR-Expertin wieder die Brücke in ihren Alltag, inspiriert von der Vielzahl an Perspektivwechseln, die sie in diesen fünf Tagen erleben konnte.
Bei der Frage an die Straßensozialarbeiterin nach deren Motivation antwortete diese, wenn sie mit ihrer Arbeit nur ein Leben zum Positiveren wenden könnte, wäre das doch sehr viel wert. „Und damit meint sie nicht jeden Tag“, stellt Marion Bönsch voller Respekt fest. „Ein bisschen ist das ja auch ein Treiber, den du als Personaler hast.“
Wie Kommunikation auf der Straße funktioniert
In der Krankenstube sowie unterwegs mit einem ehrenamtlichen Arzt im Krankenmobil wurde die SeitenWechslerin mit dem System der medizinischen Versorgung in dieser Szene vertraut gemacht und sah viele der typischen Verletzungen. „Meist sind es Fuß- und Beinverletzungen. Die Menschen, die unter Brücken schlafen und alkoholisiert sind, werden zum Beispiel auch von Ratten angefressen.“ Als es tags darauf darum ging, den wegen eines Sturzes verletzten Tim von einer Container-Notunterkunft in Altona in die Krankenstube nach St. Pauli zu befördern, zögerten die zwei Kollegen von der Straßensozialarbeit nicht lange, organisierten den Rollstuhl eines anderen Containerbewohners und schoben den Mann gemeinsam mit Marion Bönsch über die Reeperbahn dorthin. „Als er an einer Ampel ‚Ein bisschen Spaß muss sein‘ anstimmte, konnte ich als textsicherer Schlagerfan nicht an mich halten und habe mitgesungen. Danach hatte ich einen Stein bei ihm im Brett“, lacht sie – über sich selbst und das weitere passende Beispiel für Begegnung auf Augenhöhe und Akzeptanz.
Immer wieder habe sie sich gefragt, wie die Kommunikation in dieser Szene funktioniert – sowohl auf Seiten der Sozialarbeiter, die zahlreiche der obdachlosen Menschen namentlich kennen und wissen, wo diese sich aufhalten, als auch auf Seiten der wohnungslosen Menschen, die ebenfalls gut vernetzt und informiert sind, wo sie was bekommen können. „Ich habe mich zum Beispiel bei den Container-Notunterkünften gefragt, wie dafür die Vergabe funktioniert. Gibt es dazu eine Excel-Tabelle auf Sharepoint?“ Die Antwort habe in diesem Fall gelautet, dass die Menschen, die dort wirkich aufgenommen werden wollen, sich auch dementsprechend darum kümmern und dort bleiben. Und die Sozialarbeiter sagten schlicht: „Wir reden darüber.“
Was wirklich wichtig ist
Nach einem Einsatz an der Essensausgabe der TAS und der Mitfahrt im Mitternachtsbus folgte ein abschließender Reflexionstag mit allen SeitenWechslern sowie einer Vertreterin der Patriotischen Gesellschaft. Jeder habe von seinen Erfahrungen und Erkenntnissen berichtet und man habe sich darüber ausgetauscht, was wirklich wichtig ist im Leben. „Einen solchen SeitenWechsel kann ich nur wärmstens weiterempfehlen, denn meine drei Key Learnings nickt zwar jeder ab, aber ich habe sie gefühlt und nehme das ganz anders mit“, fasst Marion Bönsch den Wert der Woche zusammen.
Auf die abschließende Frage: „Was hast du über dich gelernt?“, habe sie geantwortet, dass sie es toll fand, pragmatisch mit anfassen, helfen zu können. „Meine Rolle im wahren Leben war unwichtig, ich war einfach nur die Praktikantin, ich war willkommen, war Lernende und durfte alles fragen, und es war irrelevant, was ich sonst so mache. Ich war als Mensch wichtig.“