SeitenWechsel als wertvolle persönlichkeitsentwickelnde Erfahrung
Jasmin Michel der Sparkasse Osnabrück über ihre SeitenWechsel-Erfahrung als persönlichkeitswirkende Erfahrung.
Im letzten Jahr habe ich eine Woche lang die Seite gewechselt. Nein, ich habe kein Praktikum bei einem Mitbewerber gemacht, sondern an einem besonderen Programm teilgenommen.
SeitenWechsel ist ein Instrument für Führungskräfte, um soziale Kompetenzen zu stärken und zusätzliche Fähigkeiten zur modernen Teamführung zu erlernen. So beschreibt die Patriotische Gesellschaft aus Hamburg das von ihr angebotene Programm. SeitenWechsel soll eine neue Entwicklungsmöglichkeit für Führungskräfte bieten. Kein Seminar, sondern ganz praktische Erfahrungen – Horizonterweiterung mit Langzeitwirkung. Das hat mich angesprochen, ganz persönlich, aber auch um zu sehen, ob das Programm für unsere Führungskräfte in der Sparkasse eine sinnvolle Ergänzung zu den bisherigen Angeboten im Rahmen der Führungskräfteentwicklung sein könnte.
Wie läuft das ab? Am Anfang des Programms steht eine professionelle individuelle Beratung, in der den Teilnehmenden die verschiedenen sozialen Einrichtungen vorgestellt werden und ein Einblick gegeben wird, wie der Einsatz dort konkret aussehen könnte. Zur Wahl standen Suchthilfe, Wohnungslosenhilfe, Hospiz, Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen, Strafvollzug und Kinder- und Jugendhilfe. Bei der Auswahl der Richtung geht es darum, möglichst einen Bereich zu wählen, mit dem man bisher nicht in Berührung gekommen ist – „Lernen in anderen Lebenswelten“ eben. Und je weiter die Lebenswelt von der eigenen entfernt ist, desto besser. Meine Wahl ist nach einem tollen Gespräch mit Elke Sank von der Patriotischen Gesellschaft auf eine Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen gefallen.
Das Haus Wehmstraße der Diakonischen Stiftung Wittekindshof ist eine Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen oder psychischer Beeinträchtigung und unterschiedlichem Assistenzbedarf. 24 Menschen, von jungen Erwachsenen bis hin zu Herren im Rentenalter, leben dort in gemeinschaftlichen Wohnformen.
Ich bin von der Leiterin der Einrichtung, den Mitarbeitenden und auch später beim Austausch mit anderen Teilnehmenden des Programms gefragt worden, was meine Erwartung für die SeitenWechsel-Woche ist. Das kann ich gar nicht genau sagen. Ich hatte eigentlich keine konkrete Vorstellung davon, was mich dort erwartet. Ich wollte einfach teilhaben an einem ganz anderen Arbeitsalltag, mit ganz anderen Kolleginnen und Kollegen und eine Tätigkeit kennenlernen, die möglichst weit weg von dem ist, was ich in den letzten 25 Jahren gemacht habe. Vor allem habe ich die Rolle der Lernenden sehr genossen. Auch die Mitarbeitenden in der Einrichtung hatten keine Erwartungen an mich. Und vielleicht war es genau das, was die Woche zu einem ganz tollen Erlebnis für mich gemacht hat.
6 Uhr Dienstbeginn in der Frühschicht. Mit dem Fahrrad radele ich die zwei Kilometer bis zum Haus Wehmstraße. Herrlich: frische Luft und wenig Verkehr – der Tag beginnt gut. Die Mitarbeitenden begrüßen mich herzlich. Ich fühle mich gleich wohl. Übergabe von der Nachtwache. Ich erfahre schon das eine oder andere über die Menschen, die dort leben – sie werden von den Mitarbeitenden Klienten genannt. Das kannte ich bisher nur aus der Rechtsanwaltspraxis. Aber die Erklärung leuchtet mir ein. Jede und Jeder hat einen anderen Assistenzbedarf und die Mitarbeitenden leisten diese Assistenz. Schon was gelernt.
Dann geht es direkt los. In der nächsten Stunde geht es darum, die Klienten bei der Morgenroutine zu unterstützen. Duschen, waschen, anziehen, frühstücken und Pausenbrote herrichten. Es ist laut, es ist auch ein bisschen hektisch, es ist fröhlich. Es wird gefragt, wer ich bin. Ich bin die Praktikantin. Alles klar, das reicht. Ich darf da sein. Dann stehen fast alle abfahrbereit im Eingangsbereich. Gleich kommt der Bus. Es geht zur Werkstatt. Beim Einsteigen haben alle ihr eigenes Tempo, Fahrerin und Fahrbegleiterin sind routiniert und geduldig. Dann ist es ruhig im Haus.
Kurz verschnaufen. Die Mitarbeitenden erklären mir, wie der Tag weitergeht. Fünf Klienten gehen nicht zur Arbeit, weil sie schon im Rentenalter sind. Nun geht es gemächlicher zu bis alle am Tisch zum Frühstücken sitzen. Auch hier Neugier. Aha, eine neue Praktikantin. Es wird viel erzählt. Ich höre zu, verstehe aber nicht alles. Ist nicht schlimm. Alle sind zufrieden. Ich auch.
Der Tag geht weiter mit Aufräumen, Mittagessen anreichen, Dokumentationsarbeiten. Am Nachmittag kommen die Arbeitenden aus der Werkstatt zurück. Es wird wieder lebhaft im Haus. Nachmittagstee, Zimmer in Ordnung bringen, Nachmittagsaktivitäten oder mit einer Gruppe Einkaufen. Die Einkaufsliste hat Bilder – das ist praktisch und ermöglicht allen, das Notwendige im Laden zu finden. Jeder Tag der Woche hat Routinen, aber jeden Tag gibt es auch etwas Neues – jedenfalls für mich.
Zwischendurch ist immer wieder Zeit, Fragen zu stellen, die Mitarbeitenden kennenzulernen. Darauf war ich auch gespannt. Was sind das für Menschen, die in einer solchen Einrichtung arbeiten? Was motiviert sie und was macht sie zufrieden in ihrem Job? Ich erfahre, dass die Mitarbeitenden Fachkräfte unterschiedlicher Professionen sind, z. B. Gesundheits- und Krankenpfleger, pädagogische Fachkräfte oder Sozialarbeiterinnen. Ganz unterschiedliche Persönlichkeiten – wie überall. Aber alle haben etwas gemeinsam: Sie lieben die Arbeit mit Menschen, sie sind zugewandt und engagiert für die Klienten, von der Leiterin bis zum Jahrespraktikanten.
Ich höre von einer ehemaligen Krankenschwester, dass sie ihre Arbeit in der Klinik aufgegeben hat, weil sie das Gefühl hatte, nicht genug Zeit für die Patienten zu haben. Das ist hier anders. Die Schichten sind gut besetzt – klar, wenn mal jemand krank ist, wird es auch enger – die Klienten stehen absolut im Mittelpunkt des Wirkens. Es ist immer Zeit auch für Unvorhergesehenes oder um sich einfach mal zu jemandem zu setzen und ins Gespräch zu kommen. Das Team hilft sich gegenseitig. Die Atmosphäre ist freundlich und einladend. Auch an mir sind die Kolleginnen und Kollegen interessiert, an meiner Arbeit in der Sparkasse und an dem Programm. Ich bin die erste Seitenwechslerin hier. Vielleicht ja nicht die letzte.
Während der Woche hat sich auch Marina Raddatz, die Leiterin des Hauses, ausführlich Zeit genommen, mir Einblick in ihre Aufgaben zu geben. Das sind sehr viele organisatorische Aufgaben und die Führung des Personals natürlich. Für die Herausforderungen habe ich viel Verständnis. Ich bin aber gerade froh, nicht die Chefin zu sein. Ich lade sie zu einem Gegenbesuch zu uns in die Sparkasse ein.
Zum Abschluss des Programms gab es im Mai einen Transfertag in Hamburg mit Elke Sank. Gemeinsam mit anderen Führungskräften haben wir unsere Erfahrungen in den unterschiedlichen sozialen Bereichen geteilt. Jede und jeder hat seine eigenen Erfahrungen außerhalb der Komfortzone gemacht und alle haben für sich und ihren Führungsalltag etwas mitgenommen. Was das ist? Mehr Offenheit, mehr Verständnis für andere, mehr Fokus für die wichtigen Dinge und mehr Gelassenheit, wenn es mal nicht so läuft, wie geplant.
Mein Fazit: Der SeitenWechsel kann für Führungskräfte eine wertvolle persönlichkeitsentwickelnde Erfahrung sein. Wir haben das Programm aus diesem Grund auch in das Portfolio unserer Personalentwicklungsinstrumente aufgenommen.
Einige Wochen später komme ich wieder in die Wehmstraße. Ich bin zum 10-jährigen Jubiläum des Hauses eingeladen. Es ist richtig viel los, im schönen Garten wird gegrillt und es gibt ein großes Salatbuffet. Ich helfe bei der Getränkeausgabe und freue mich, dass alle Spaß haben. Ab und zu fragt jemand, ob ich die Frau von der Sparkasse bin. Das hätten sie gehört. Ja, ich bin die Frau von der Sparkasse, aber heute ist Sonntag und heute bin ich hier.
Vielen Dank an das Team Haus Wehmstraße!
Jasmin Michel