Ein SeitenWechsel öffnet den Kopf für mehr
Christian Wriedt, während des SeitenWechsels Vorstandsvorsitzender der Körber-Stiftung, berichtet von seiner Woche im PIK AS – Übernachtungsstätte für obdachlose Männer.
Das Fortbildungsprojekt nahm vor Jahren seinen Anfang als ich Frau Tito auf einer Veranstaltung des NIT kennenlernte und der erste Akquisitionsversuch seitens Doris Tito von mir mit dem sicher oft benutzten Hinweis „keine Zeit“ abgewehrt werden konnte. Frau Tito wäre aber nicht die Programmleiterin von SeitenWechsel, wenn sie nicht „dran“ bliebe, um am Ende den Kandidaten doch an die Angel zu bekommen. Nach unendlichen Versuchen vereinbarte sie einen Gesprächstermin mit mir, in dem ich mir sehr skeptisch noch einmal anhörte, warum SeitenWechsel ein Gewinn für alle ist: Das Unternehmen profitiere, da Führungskräfte mit Gespür für Menschen immer wichtiger werden. Der Seitenwechsler – also ich – lerne sensibler und differenzierter mit Menschen gerade in schwierigen Lagen umzugehen. „Die meint doch nicht mich!“ ist die erste innere Reaktion und flexibel und kommunikationsfähig in Stressmomenten bin ich doch sowieso?“ „Oder ist das dann doch nur eine Sicht mit einer etwas rosa-rot gefärbten Brille auf die eigene Person?“ Und die soziale Institution profitiere, da der Seitenwechsler die Chance bietet, die Leistungen darzustellen und Verständnis für ihre Arbeit zu wecken.
Markttag
Nun weiß ich aus eigener Erfahrung wie das mit Praktikanten und Auszubildenden ist, die einem doch eigentlich nur Zeit stehlen! Oder sollte hier doch noch ein anderer Aspekt eine Rolle spielen? Und im Übrigen: Zeit habe ich sowieso nicht! Und Frau Tito hat es schafft: Sie hat mich überzeugt, die Marktbörse zu besuchen, die ich mit einem etwas gemischten Gefühl betreten habe. Genauso viel Initiativen wie Nachfrager wurde dann auf der Marktbörse von Frau Tito auf das, was da kommt, vorbereitet: „Hören Sie gut zu, gehen Sie in sich, versprechen Sie nie etwas – und seien Sie sich darüber im Klaren, dass Sie nur Praktikant und nicht besserwissender Chef in einer solchen Institution sind.“ Und dann ging es los: Nacheinander stellten die einzelnen Initiativen sich vor und uns wurde Gelegenheit gegeben, in Einzelgesprächen nachzufragen, nachzuhorchen, wo wir glauben, dass innere Grenzen überschritten werden und deshalb die eine Institution mehr – und u. U. eine andere weniger - geeignet ist. In diesem Augenblick wollte ich fliehen, da ich ganz offensichtlich mit Menschen aus Institutionen ins Gespräch kam, die in einer so unendlich anderen Welt zu Hause waren, dass ich schon lange, bevor ich mich irgendeinem Projekt dann nähern würde, die Schwellenangst spürte. Versprochen ist aber versprochen. So fühlte ich mich gegenüber Doris Tito in der Pflicht und wollte dann aus meiner Sicht auch etwas Ungewöhnliches anpacken. Hahnöfersand und die Übernachtungsstätte Pik As blieben in meiner eigenen Favoritenliste am Schluss als geeignete Kandidaten übrig.
Pik As - mein Favorit
Überzeugt hat mich dann Astrid Peters, die mir hoch engagiert und begeisternd Pik As nähergebracht hat. Ein Handschlag und es war klar, ich werde im Juni 2009 in der Neustädter Str. 31a, 20355 Hamburg, eine andere Welt kennenlernen. Es gab ein Vorgespräch und ich spürte sehr deutlich, dass der dunkelblaue Blazer und das blaugestreifte Hemd nicht den angemessenen Dresscode darstellten. Empfangen wurde ich von Melanie Anger und Astrid Peters, die mir zunächst einmal sehr glaubhaft vermittelten, dass sie sich wirklich auf mich freuten, was ein sehr gutes Gefühl war. Mein Wochenplan beinhaltete die Mitarbeit in der Aufnahme, das Kennenlernen und Mithelfen im Küchenprojekt bis hin zur Essensausgabe. Die Teilnahme am wöchentlichen Hausdurchgang sowie an der Sprechstunde der sozialen Dienste, das Räumen der Notzimmer - jeweils montags und donnerstags - mit Abziehen der Betten und vieles anderes mehr. Einen Tag – so hatten es sich die Damen überlegt – werde ich an das Projekt „Frauenzimmer“ ausgeliehen. Zur Krönung wurde schließlich das Angebot mit dem Hinweis erweitert, dass ich an einem Abend der Woche im Mitternachtsbus der Diakonie mitfahren werde, um die Menschen auf der „Platte“ näher kennenzulernen. Dresscode: Jeans – bitte nicht die neuesten – und Turnschuhe und natürlich ohne Schlips. Ich gebe gern zu, dass dieser Wochenplan mich ein bisschen irritierte, denn ich hatte eindeutig den Eindruck, dass das Team von Pik As wild entschlossen war, mich einer Klientel von Menschen sehr intensiv näherzubringen, an denen ich sonst vorbeilaufe, wenn sie in Schlafsäcken in Haus- und Geschäftseingängen liegen oder bestenfalls schon als Hinz & Kunzt -Verkäufer ihr Produkt feilbieten. Aber es waren ja noch drei Wochen bis zum Start und der Mensch/der Mann verdrängt ja gerne.
Die SeitenWechsel-Woche
8. Juni 2009, 7 Uhr, beim familiären Frühstück die etwas ungläubigen Blicke meiner Kinder auf mein Outfit: „Papi, wo gehst Du denn hin – gehst Du heute gar nicht ins Büro?“ Und dann ab ins Auto, das ich bewusst auf meinem Firmenparkplatz abgestellt habe, um dann mit dem Fahrrad einigermaßen standesgemäß bei Pik As vorzufahren. Der erste Zutritt wurde erschwert, da das Reinigungspersonal die Eingangshalle und den Empfang etwas derb mit mehreren Kärcher-Geräten reinigte und mir partout den Zutritt verweigerte. Hier kam zum ersten Mal Aziz in mein Gesichtsfeld, der meine ausweglose Situation erkannte, wusste, dass ein „Praktikant“ erwartet wird und mit mir durch den Noteingang durch den Keller den Weg in die Verwaltung suchte. Und was gab es da für einen Empfang: Das gesamte Verwaltungsteam begrüßte mich herzlich. Ich fühlte mich sofort willkommen. Vielen Dank an Sie alle, die mir den Start so leicht gemacht haben.
In der ersten Station – am Empfang – standen sie: Junge und alte Menschen, im mittleren Alter und ganz alte, getrennt durch den Aufnahmetresen, sah ich wie die Mitarbeiter um Aziz mit ihnen umgingen, sie auf der einen Seite antrieben und auf der anderen Seite sich sehr vertrauensvoll über den Tresen lehnend die Sorgen anhörten. Menschen, die oftmals den ganzen Tag im Bereich der Aufnahme standen, immer wieder aus dem Kaffeeautomaten ein neues Getränk herausdrückten und offensichtlich ihren Tag damit verbrachten zu warten, wobei für mich unklar war, auf was gewartet wird. SeitenWechsel ist ein Programm der Patriotischen Gesellschaft von 1765 und der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft. Die Männer gingen und kamen oftmals fünf oder sechs Mal am Tag, waren nur 20 Minuten unter-wegs, wohin? Eine Antwort auf die Frage war eigentlich nur dann einfach, wenn sie mit Plastiktüte, in der offensichtlich Flaschen standen, vom nahegelegenen Supermarkt zurückkamen. Alkohol verdrängt, Alkohol betäubt und Alkohol ermöglicht zu vergessen. Und dazwischen immer wieder eine neue meist selbstgedrehte Zigarette. „Bitte einen Becher.“, „Ich hätte gerne meine Post.“, „Kann ich zwei Handtücher haben?“, „Ist heute Waschtag?“, „Ich brauche bitte eine neue Spritze.“ – aber nur gegen Rückgabe der alten. Und wieder Warten und wieder Kommen und Gehen, unstrukturiert, augenscheinlich oft ziel- und planlos. Dazwischen das Team am Empfang, immer deutlich in der Ansage, aber auch immer mit viel Verständnis für Menschen, die oft durch Drogen- und Alkoholkonsum offensichtlich in einer anderen Bewusstseinsebene lebten. Oft Menschen mit Nichts, die doch gepflegt und sauber auf das Wenige achteten, und andere die sich gehen ließen. Welche Einzelschicksale, welche Biografien steckten hinter diesen Menschen? Die Gesamtsituation macht sehr nachdenklich und es kommt mir das Bild in den Sinn, worin die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses Pik As ständig versuchen, aus einer ungeordneten Portion gekochter Spaghetti durch das Durchziehen einer Gabel, ein Stück Struktur in das Leben ihrer Schützlinge zu formen. Vereinzelt gelingt es, oft nicht und das ringt mir hohen Respekt vor der Arbeitsleistung und der immer wieder notwendigen Selbstmotivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Pik As ab.
Das Gespräch mit dem Kammerjäger über die Erfolge bei der Kakerlakenbekämpfung ist ein genauso prägendes Erlebnis wie der Bericht nach der Inaugenscheinnahme der Zimmer, in denen Haustiere gehalten werden, über sehr spezielle Beziehungen zwischen Bewohnern und ihren (noch) lebenden Zimmergenossen, für die Veterinäramt bzw. tierärztlicher Notdienst einschaltet werden müssen. Oder der Vorfall mit einem langjährigen Bewohner, bei dem es in einer Auseinandersetzung mit einem Zimmergenossen am Wochenende offensichtlich zu einer Bedrohungssituation mit einem Messer gekommen ist und dem, nachdem dieser Bewohner nicht zum ersten Mal aufgefallen war, ein Haus- und Platzverweis für drei Monate auferlegt wurde. Was für eine scheinbar ausweglose Situation für diesen Menschen, der nicht – wie man ihm geraten hat – sich schnellstens um eine andere öffentlich-rechtliche Unterkunft bemühte, sondern mit einer erneuten Amtseinweisung bei Pik As mittags wieder vor der Tür stand, dem dann auferlegt wurde, nun endgültig innerhalb einer Stunde seine Sachen zu packen und das Haus zu verlassen und der nach zwei weiteren Stunden in einem fremden Zimmer aufgespürt und schließlich durch Beamte der Polizeiwache 14 mit einem völlig verständnis- und hilflosen Gesichtsausdruck des Hauses verwiesen wurde. Im handschriftlich geführten Übergabeprotokoll für die nächste Schicht war am nächsten Tag zu lesen, dass er abends um 22 Uhr schon wieder vor der Tür stand und mit polizeilicher Unterstützung erneut vom Grundstück geleitet wurde.
Vermüllung auf einem wirtschaftlich auf Null gestellten Lebensfundament sind genauso fremd in meiner Lebenswelt wie die Begegnung mit einem schwarzen Theologen, der beim Räumen der Notbetten, in Jackett und Schlips gekleidet, in missionarischer Manier in einem der Schlafräume laut den christlichen Glauben pries und uns alle durch Handauflegen und sein „God bless you“ doch irgendwie beeindruckte. Verfolgungswahn und Diebstahl untereinander begleiten mich in dieser Woche genauso wie doch erstaunliches Selbstbewusstsein und auch Anspruchsdenken der Kunden von Pik As.
Das Team von Astrid Peters und Tobias Bartha leistet Hilfe und gibt Rat, wo immer sie es können– wenn er denn angenommen wird bzw. wenn die persönlichen Kompetenzen (noch) ausreichen, um Ratschläge umzusetzen. Das Feuer der Hoffnung ist ganz sicher in manchen Gesichtern schon erloschen, in anderen hält es sich tapfer und als Außenstehender stelle ich mir die Frage, woher in diesen Fällen die Energie kommt. Ein echter Lichtblick ist dann, wenn es gelingt - mit einem der will und kann - aus einem aus bürokratischer Sicht nicht existierenden Individuum wieder einen Menschen zu machen, der über einen vorläufigen Personalausweis genauso verfügt wie über Krankenversicherungsschutz, die Anmeldung zur Sozialversicherung vorweisen kann und der aus dem Staatssäckel in bar seine ersten 100 Euro erhält. Das sind Glücksgefühle nach dem Motto „nichts ist unmöglich“, darf aber die Existenzen, die offensichtlich hoffnungslos sind, nicht vergessen machen. Etwas anders stellt sich die Situation bei meinem eintägigen Ausflug in das „Frauenzimmer“ dar, wo neben den Frauen, die „nur“ für eine oder mehrere Nächte ein Dach über den Kopf suchen, für die festen Bewohnerinnen ein Programm zur „Rückkehr“ in die Gesellschaft vereinbart wird. Sicher gibt es auch hier Menschen, die einfach so sind wie sie sind, und denen daher nicht wirklich geholfen werden kann. Trotzdem scheint mir die sehr andere Philosophie, die sich in einer individuelleren Behandlung darstellt („Frauenzimmer“ ist deutlich kleiner als Pik As) zu einem anderen Klientel zu führen… und im Übrigen gibt es sie sicher – die Unterschiede zwischen Mann und Frau. Ich danke ausdrücklich dem Team um Sabine Kordt von „Frauenzimmer“ für den außergewöhnlich herzlichen Empfang, für die Offenheit und für die Bereitschaft, einen Tag Zeit dafür zu verwenden, mich mit den in dieser Einrichtung entstehenden Herausforderungen bekanntzumachen und in die dortige Arbeit aktiv einzubeziehen.
Frau Tito gebe ich sehr gern den Hinweis, dass auch „Frauenzimmer“ durchaus ein Ort ist, der männlichen SeitenWechslern als Anlaufstation angeboten werden könnte. Astrid Peters hatte für mich auch die Fahrt mit dem Mitternachtsbus – getragen von der Diakonie – vermittelt. Das ist noch ein Stück anders, eben direkt am Schlafsack des Menschen, der im Hauseingang übernachtet, komplett ehrenamtlich organisiert, mit einer wieder ganz anderen Herangehensweise an die Mitmenschen, die auf der Straße leben. Ich habe mir auf unserer nächtlichen Tour mehrfach die Frage gestellt, wie viel Gegenleistung von den Kunden des Mitternachtsbusses eingefordert werden kann, wenn man als Ehrenamtlicher von 19 bis 24 Uhr die relevanten Punkte der Stadt abfährt, um Getränke, Essen, Kleidung und Schlafsäcke an Obdachlose zu verteilen. Andererseits fiel auf, wie andere dankbar und diszipliniert, dieses tolle Hilfsangebot annehmen, wobei auch hier dem sonst so Unbeteiligten sich x-mal die Frage aufdrängte, welche Biografien hinter denen zu lesen sind, die sich ordentlich in Reihe am Bus anstellen.
Fazit
1.Wenn zumindest im beruflichen Leben eines Kaufmanns meistens doch das Ergebnis von 1 + 1 = 2 ist, stelle ich für die gemachten Erfahrungen innerhalb dieses Projekts fest, dass das eben das Ergebnis einer Rechnung in meiner Welt ist und dieses Ergebnis keineswegs auf die Menschen, mit denen ich bei SeitenWechsel zusammengetroffen bin, zu übertragen ist.
2. Ziel erfüllt? Übererfüllt! Wer sich auf den SeitenWechsel bei Pik As einlässt, taucht in eine Welt, die in einer Metropolregion wie Hamburg ständig um uns herum präsent ist, aber in dieser Dichte nie wahrgenommen werden kann. Das öffnet den Kopf für mehr und ist mit Sicherheit für einen sehr großen Kreis unserer Führungskräfte empfehlenswert.
3. … und ich habe es doch nicht geschafft, meine Eindrücke auf nur zwei Seiten niederzuschreiben. Das war mein ursprünglicher Plan! Danke an Doris Tito, dass sie mich überzeugt hat, danke an Melanie Anger und Sabine Kordt, dass sie die von ihnen repräsentierten Einrichtungen für mich geöffnet haben. Danke an Astrid Peters, die immer erfolgreich darauf geachtet hat, dass ich in der Welt von Pik As nicht verloren gehe und die sich so intensiv darum gekümmert hat, dass ich ständig an den Brennpunkten der Arbeit dabei sein konnte. …und danke an alle MitarbeiterInnen in den Teams von „Pik As“ und „Frauenzimmer“. Ihnen allen wünsche ich sehr viel Erfolg bei dieser wichtigen Arbeit und … man sieht sich immer zweimal im Leben.