Mein SeitenWechsel bei MiKiLele
Arne Ritter berichtet von seinem SeitenWechsel bei MiKiLeLe (Mit Kindern leben lernen).
Er hatte sich vorgenommen, seine Fähigkeit zur Empathie weiter zu entwickeln, Wichtiges von weniger Wichtigem besser trennen zu lernen, und zu versuchen, die Welt ganz bewusst aus anderen Perspektiven zu betrachten, um seine eigene Sicht besser hinterfragen zu können.
Wann immer ich von meinem SeitenWechsel erzähle – und das tue ich häufig, denn die Begeisterung ist groß – werde ich schnell auf mein soziales Engagement angesprochen. Mein Gegenüber lobt mich dann gern, findet das richtig gut. Leider ist das aber Unsinn, denn beim SeitenWechsel handelt es sich keineswegs um ehrenamtliche Arbeit. Der Seitenwechsler hilft nicht, er lernt. Was er lernt, ist sicher individuell sehr unterschiedlich. Es hängt von der Institution und natürlich vor allem dem Seitenwechsler selbst ab, davon, was er bereits mitbringt, was er zu lernen vorhat und was er zu lernen bereit ist.
Ich hatte mir vorgenommen, meine Fähigkeit zur Empathie weiter zu entwickeln, wichtiges von weniger wichtigem besser trennen zu lernen, und zu versuchen, die Welt ganz bewusst aus anderen Perspektiven zu betrachten, um meine eigene Sicht besser hinterfragen zu können. Im Grunde alles Dinge, die ich bereits gar nicht so schlecht hinkriege, aber selbst Cristiano Ronaldo trainiert ja auch täglich Freistöße.
MiKiLele
Als Institution hatte ich mir MiKiLele ausgesucht. „MiKiLele“ steht für „Mit Kind Leben lernen“ und ist der Name einer Einrichtung des Theodor-Wenzel-Hauses in Hummelsbüttel. Hier werden Mütter und auch einige Väter mit ihren Kindern betreut. Ihnen wird geholfen, zu lernen, mit ihrem Kind zu leben. Dabei ist die Hauptaufgabe die Sicherung des Kindeswohls. Mütter und Väter sollen in die Lage gebracht werden, das Wohl ihres Kindes eigenständig sicherzustellen, möglichst auch in einer eigenen Wohnung.
Diese Hilfe ist aus unterschiedlichen Gründen erforderlich, häufig weil die betreuten Mütter noch minderjährig sind, oder weil sie von erlebter Gewalt, Missbrauch oder anderen Notsituationen wie z.B. monatelanger Flucht traumatisiert sind. In fast allen Fällen fehlt ein robustes familiäres Umfeld. Es fehlen Vorbilder, von denen gelernt werden könnte.
Im Sinne dieser Aufgabe, also der langfristigen Sicherung des Kindeswohls, helfen Sozialpädagoginnen und eine Hauswirtschaftsleiterin den Bewohnern der Einrichtung auch dabei, viele praktische Dinge des Alltags zu erlernen, von Haushaltsführung und Sauberkeit, der Notwendigkeit, sich an Regeln zu halten und verlässlich zu sein über Planung der eigenen Arbeit, der eigenen Freizeit und bis hin zum Umgang mit Geld. Gleichzeitig wird das Leben mit Kind erlernt, zum Beispiel Kinderpflege und -ernährung, Spielen mit dem Kind, das Erkennen seiner Bedürfnisse und vor allem die grundsätzliche Einsicht, dass die Bedürfnisse des Kindes immer über die eigenen zu stellen sind.
Perspektivwechsel
Vieles davon klingt selbstverständlich, banal, und das ist es auch, wenn man von Vorbildern, vielleicht unbewusst, lernen kann, wenn man jemanden hat, den man fragen kann, von dem man abgucken kann, wenn man psychisch so gesund ist, dass man den Bedarf zu lernen auch erkennt, die Fragen artikulieren und mit seiner Umgebung und dem Kind kommunizieren kann. Das ist in meinem persönlichen Umfeld die Regel, bei den Bewohnern von MiKiLele aber leider nicht. Deshalb kann ich dort lernen, von den Müttern und Vätern, von den Sozialpädagoginnen und allen anderen, die dort leben und arbeiten, der Hauswirtschaftsleiterin, den Kindern. Sie alle sehen die Welt aus einer deutlich anderen Perspektive als ich.
Im Laufe der SeitenWechsel-Woche hatte ich dann tatsächlich nicht nur Gelegenheit, das zu lernen, was ich mir vorgenommen hatte. Ich gewann auch Eindrücke, die deutlich darüber hinausgingen, oft gerade dann, wenn ich nicht damit rechnete. Ich möchte einige dieser Eindrücke schildern.
Wahrnehmen und wahrgenommen werden
Im Laufe der Woche begleitete ich eine junge Mutter und ihren Sohn bei einem Arztbesuch, und der erste Perspektivwechsel, den ich intensiv wahrnahm, betraf nicht meine Sicht auf die Welt, sondern wie ich von der Welt wahrgenommen wurde. Es ist offensichtlich ein Unterschied, ob ich als hellhäutiger, gesunder Mann mittleren Einkommens und Alters allein unterwegs bin, oder in Begleitung einer afrikanischen Jugendlichen, ihrem Baby und einem Kinderwagen. Wir wurden beäugt, man grübelte offensichtlich darüber nach, wie wir zueinander stünden und was davon zu halten sei. Dunkelhäutige Passanten wiesen uns freundlich lächelnd und ungefragt auf Fahrstühle hin, boten Hilfe beim Ein- und Aussteigen an, versuchten das Baby zum Lächeln zu bringen. Der türkische Arzt, den wir aufsuchten, gab mir die Hand, umarmte mich jovial und sagte: „Na, und der Papa muss auch keine Angst haben.“ Er hielt uns für ein Paar und schien daran nichts auszusetzen zu finden.
Wir besuchten ihn, um das 8 Wochen alte Baby, einen Jungen, beschneiden zu lassen. Zu diesem Thema hatte ich vor dem SeitenWechsel eine sehr deutliche Meinung. Ich fand, das sei schlicht Körperverletzung. Jetzt, nachdem ich dabei war, zugesehen habe, wie die Operation durchgeführt wurde, wie die Mutter mitlitt und gleichzeitig stolz war, nachdem ich sie getröstet habe und sah, wie gut ihr Sohn den Eingriff wegsteckte, jetzt sehe ich es anders. Halte ich Beschneidungen von kleinen Jungs jetzt für eine tolle Idee? Nein, sicher nicht. Respektiere ich Menschen, die die Beschneidung befürworten, sie durchführen und wie in diesem Fall sogar mehr als ein Monatseinkommen für den Eingriff bezahlen? Ja, das tue ich, ganz klar.
Es ist nicht immer notwendig, eine eigene Meinung zu haben, und diese dann kund zu tun. Mein Job war die Begleitung und Unterstützung einer jungen Frau, die nach ihrer eigenen Überzeugung lebt, und mit dem Ausfüllen dieser Rolle war ich voll ausgelastet.
Gemeinsamkeiten
Eine andere Afrikanerin litt unter chronischen Kopfschmerzen und ihre Betreuerin schlug vor, ihre Augen überprüfen zu lassen. Beim Fernsehen und am Computer saß diese Frau auffällig dicht am Bildschirm, weshalb eine Sehschwäche als Auslöser der Kopfschmerzen vermutet wurde. Ich durfte sie zum Optiker begleiten und kümmerte mich während der Überprüfung um ihre Söhne. Als eine erhebliche Sehschwäche von 2,5 bzw. 3 Dioptrien festgestellt wurde, erwartete ich eine erfreute Reaktion. Schließlich war jetzt klar, dass die junge Mutter schon sehr bald sehr viel besser sehen können würde, und wahrscheinlich war auch die Ursache für ihre regelmäßigen Kopfschmerzen gefunden. Sogar die Kosten hielten sich im Rahmen. Ich war sehr zufrieden mit mir, mit den Errungenschaften der europäischen Zivilisation und des Gesundheitssystems, alles super, alles natürlich viel besser als im fernen, armen Afrika. Meine Begleiterin würde froh und dankbar sein, da war ich mir sicher.
Da wurde ich durch anklagendes Jammern überrascht. Oh nein, was für unglaublich schlechte Nachrichten, wie furchtbar. Wie würde sie jetzt wohl mit einer Brille aussehen, schrecklich. Die junge Frau hatte eine Flucht hinter sich, die länger als ein Jahr gedauert hatte und auf der sie praktisch ohne Hilfe ein Kind zur Welt gebracht hatte. Sie war betrogen und verlassen worden, war erst vor wenigen Monaten mittellos, unterernährt, schwanger und mit einem schwerkranken Säugling in Hamburg angekommen, und trotzdem reagierte sie auf die Nachricht, bald eine Brille tragen zu werden, exakt so, wie eitle Teenager gerne reagieren, bockig. Die Reaktion meiner Kinder auf die Nachricht, dass das Tragen einer Zahnspange ihnen zu einem perfekten Gebiss als Erwachsene verhelfen wird, war ganz ähnlich.
Auch das ist eine Erkenntnis. Manchmal verläuft das Leben total unterschiedlich, und trotzdem ist die Perspektive im Grunde dieselbe.
Grenzen
Eine ganz andere Herausforderung war die Begleitung einer Frau mit ihrem 7 Monate alten Sohn zur Krankengymnastik. Diese junge Mutter leidet an Mutismus, sie spricht nur einsilbig. Sie zeigt kaum Mimik und Gestik und hat Schwierigkeiten, echten Kontakt zu ihrem Kind aufzunehmen. Sie wirkt emotionslos, ist es aber vermutlich nicht, denn elektronisch-schriftlich, z.B. in sozialen Medien, kommuniziert sie gern und ausführlich. Ihr Kind wird „nach Vojta“ therapiert, einer Methode, die für Kleinkinder sehr unangenehm ist. Die Kinder schreien haltlos während der gesamten Dauer der Behandlung. Dabei ist das Schreien durchaus ein gewünschter „Aktivierungszustand“, weil durch bestimmte Druckpunkte Bewegungsmuster gefördert werden sollen. Das ist sinnvoll, es belastet Kind und anwesende Eltern trotzdem emotional erheblich.
Die Mutter stand während der Behandlung scheinbar teilnahmslos daneben, nahm danach das Kind an sich, vermutlich voll jener Emotionen, die Eltern nun mal haben, wenn sie ihr Kind leiden sehen, aber vollkommen ohne Möglichkeit, mit dem Kind emotional in Kontakt zu treten, es zu trösten, ihm ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Fähigkeiten, die für die meisten Eltern selbstverständlich sind, die sie gar nicht bewusst wahrnehmen. Ich litt mit dieser Mutter, hatte das Gefühl, sie zu verstehen, versuchte Kontakt aufzunehmen, fand keinen Weg ihr zu helfen, war machtlos wie sie selbst.
Die eigene totale Ohnmacht zu erkennen und zu akzeptieren, dass aufgeben, aufhören, fallenlassen trotzdem keine Optionen sind, das war sicher einer der herausforderndsten Momente meiner SeitenWechsel-Woche. Menschen sind keine Projekte, die man stoppen kann, wenn sich der Aufwand nicht zu lohnen scheint.
Schicksale
Und so könnte ich lange weiter schreiben. Ich nahm an einem Mutter-Kind-Spiel und einer gruppentherapeutischen Schulung der Kontaktaufnahme zwischen Mutter und Kind teil, las mich in Akten fest, sprach mit Betreuerinnen und auch mit Müttern direkt über ihre Geschichten und lernte so viele Menschen und ihre Schicksale kennen. Jede Geschichte im Grunde kaum zu glauben. Der Grundtenor, der sich durch viele Geschichten zieht, besteht aus Missbrauch und Gewalt. Physische, psychische, sexuelle Gewalt, die Unfähigkeit, Konflikte konstruktiv zu lösen, das eigene Verhalten zu korrigieren, zu lieben, Liebe zu zeigen.
Das Schicksal eines Jungen, den ich ohne den SeitenWechsel einfach als schlecht erzogen, als Bedrohung für friedliche Kinder und Zumutung für die Gesellschaft wahrgenommen hätte, rührte mich zu Tränen. Eine Geschichte von Gewalt und Missbrauch, Unverständnis, Härte, verzweifelten Pädagogen, einem verstörten Kind und ohnmächtiger Liebe einer Mutter. Im Grunde nichts Neues, ich lese diese Art Geschichte ja oft in Zeitungen, meist kurz gehalten und im Zusammenhang mit irgendeinem Verbrechen. Dann kämpft der Bauch, der schnell urteilt und auch etwas angewidert ist, mit dem Verstand, der Empathie anmahnt und vorschnelles Verurteilen verbietet.
Ich hoffe, dass mein SeitenWechsel dazu beiträgt, dass zukünftig der Verstand schneller einsetzt, oder besser noch: dass das erste Bauchgefühl bereits von Empathie geprägt sein wird.
Soziale Arbeit
Als ebenso bereichernd empfand ich den Kontakt mit den Betreuerinnen und der Hauswirtschaftsleiterin.
So war es zum Beispiel sehr interessant, zu erleben, dass eine ausführliche Dienstbesprechung ausschließlich unter Frauen, noch dazu allesamt Pädagoginnen, eine völlig andere Dynamik entwickelt als die oft von männlichen Ingenieuren, Betriebswirten oder Chemikern dominierten Besprechungen, die ich gewohnt bin. Die Motivationen, eben diesen Beruf zu ergreifen, die Strategien, mit den Belastungen klar zu kommen – „Supervision ist Psychohygiene für Sozialpädagogen“, die sehr unterschiedliche Art mit den Bewohnerinnen und ihren Kindern umzugehen, das alles war interessant zu beobachten.
Obwohl ich nur kurz dabei sein würde und komplett ohne relevante Ausbildung daher kam, wurde ich nach meiner Meinung gefragt, nach meinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen. Meine Sicht war ein Beitrag zur Gesamtheit aller Beobachtungen, die für den Entscheidungsprozess herangezogen wurden. Diskutiert wird im Kollektiv, jeder ist aufgefordert, die eigene Meinung deutlich formuliert zu äußern, trotzdem wird im kleinen Kreis der tatsächlich Zuständigen entschieden, und anschließend wird diese Entscheidung gemeinsam getragen. Das hat mich nachhaltig beeindruckt, und ich werde versuchen, zumindest Fragmente davon in meinen Arbeitsalltag mit zu nehmen.
Dank
Ich bin beeindruckt und dankbar. Einerseits beeindruckt von den Müttern und ihren Kindern, die es schaffen, sich der Herausforderung zu stellen, es zuzulassen, dass ihnen geholfen wird und diese Hilfedankbar annehmen. Andererseits beeindrucken mich auch die Mitarbeiterinnen nachhaltig. Sie kümmern sich mitfühlend, und schaffen es trotzdem, die notwendige emotionale Distanz zu wahren, konsequent zu handeln und unter den wiederkehrenden Mustern furchtbarer Geschichten nicht abzustumpfen. Ich bin dankbar für die Offenheit, der Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen, die mich willkommen hießen, Rede und Antwort standen und mir geduldig alles erklärten. Ich werde versuchen, sowohl zur Institution selbst als auch zu einigen Personen, die ich kennen lernen durfte, Kontakt zu halten. Wird mir das im normalen Arbeits- und Familienalltag gelingen? Wenn der SeitenWechsel das bewirkt hat, was ich glaube, dann schon.