Wie ist die Lage in der Wohngemeinschaft Oewerweg?
SeitenWechsel bietet Perspektivwechsel und Einblicke in Lebenswelten, mit denen unsere Teilnehmer/innen sonst wenig Berührung haben. Diese Einblicke möchten wir auch jetzt, während der Corona-Pandemie, bieten, wenn unsere Arbeit nicht durchführbar ist wie sonst.
Wir haben Michael Koza, Heilerziehungspfleger in der Wohngemeinschaft Oewerweg der Lebenshilfe Bremen e.V. gefragt, wie es den Kolleginnen und Kollegen, den Klientinnen und Klienten in seiner Einrichtung geht. Als Elternverein und Fachverband hat sich die Lebenshilfe Bremen zum Ziel gesetzt, Menschen mit Beeinträchtigung, insbesondere Menschen mit einer geistigen Behinderung, ein Leben so selbstständig wie möglich und mit so viel Unterstützung und Schutz wie nötig zu ermöglichen und deren Angehörige zu unterstützen. Dazu werden unterschiedliche Leistungen der Unterstützung, Beratung, Begleitung und Förderung für Menschen aller Altersgruppen und mit jedem Hilfebedarf angeboten.
SeitenWechsel: Wie sieht die Lage bei Ihnen aus?
Michael Koza: Aktuell ist die Lage sowohl bei den Mitarbeiter*innen als auch bei den Bewohner*innen zufriedenstellend. Dies ist darauf zurückzuführen, dass wir personell gut abgedeckt sind. In diesem Zusammenhang machen sich vor allem unsere zusätzlichen Kräfte wie FSJler, Krankenhauspraktikanten*innen, Auszubildende und Freiwillige bemerkbar. Der Kontakt zwischen den Bewohner*innen und den Freiwilligen findet im Zuge von Corona nicht persönlich, sondern telefonisch statt. Unter den vorgegebenen politischen Maßnahmen (Abstand halten, Hände waschen) werden trotzdem individuelle Angebote entwickelt und mit den hier lebenden Menschen durchgeführt. Beispielsweise gibt es in dem Zusammenhang zurzeit keine Gruppenangebote und wir erinnern die Bewohner*innen an das häufigere Hände waschen. Der Fokus liegt auf den individuellen Bedürfnissen der Menschen. Des Weiteren gab es seitens der Lebenshilfe Bremen das Angebot, dass Schulassistenten aus dem Fachbereich Kinder, Jugendliche und Familien hier aufgrund der Schulschließungen tätig sein können. Dieses Angebot hat der Oewerweg gerne angenommen, um ebenfalls individuelle Freizeitangebote stattfinden lassen zu können.
Einschränkungen:
Die Einschränkungen, die wir aktuell erleben, sind die inklusiven Aktivitäten. So gestalten sich beispielsweise Besuche zum Reiterhof oder normales Einkaufen für unsere Bewohner*innen als sehr schwierig. In diesem Fall haben wir die präventive Maßnahme getroffen, dass die Bewohner*innen uns einen Einkaufszettel mit ihren individuellen Wünschen aufschreiben und wir stellvertretend für die Menschen einkaufen gehen. Dies nehmen die Bewohner*innen in der aktuellen Phase auch gerne an.
Durch die Schließung der Werkstätten und der Tagesstätten fehlt einigen Bewohner*innen die gewohnte Tagesstruktur. Da es zur Wiedereröffnung keine verlässlichen Aussagen gibt, fehlt einigen die Orientierung. Dies führt bei den Bewohner*innen teilweise zu Verunsicherung, die wir Mitarbeiter abfedern müssen. Andere Bewohner*innen wiederum genießen das lange Ausschlafen und die viele freie Zeit.
Eine weitere Einschränkung aus Sicht der Mitarbeiter*innen ist die Planbarkeit im Falle eines Verdachts auf Corona. Dies führt teilweise zu Verunsicherungen unter den Mitarbeiter*innen. Zwar haben wir in unserer Dienstbesprechung einen Pandemie-/Notfallplan für unser Appartementhaus ausgearbeitet, im Falle eines Corona-Verdachts müssen wir allerdings ebenfalls individuell betrachten, welche Maßnahmen zur Eindämmung getroffen werden müssen. Mögliche Leitfragen hierzu wären: Welche Bewohner*innen hatten zu welchen Bewohner*innen Kontakt? Welche Bewohner*innen hatte zu welchen Mitarbeiter*innen Kontakt? Diese Leitfragen kann man unmöglich im Voraus beantworten. Mögliche Maßnahmen müssen in Absprache mit dem Gesundheitsamt, der Fachbereichsleitung, der Regionalleitung und den Mitarbeiter*innen stattfinden.
SeitenWechsel: Wie können die Menschen Sie als Einrichtung unterstützen?
Michael Koza: Medial betrachtet werden Alten- und Pflegewohnheime durchaus öfter thematisiert als die Behindertenhilfe. Die Behindertenhilfe kommt trotz ähnlicher Arbeitsbelastung an dieser Stelle deutlich zu kurz. Aufgrund von unterschiedlichsten Beeinträchtigungen oder chronischen Erkrankungen gehören die Menschen, die im Oewerweg oder bei der Lebenshilfe Bremen leben, zur Risikogruppe und müssen an dieser Stelle auch dementsprechend geschützt werden. Von der Gesellschaft aber auch von der Politik wünschen wir uns an dieser Stelle mehr Anerkennung für die Arbeit in diesem Bereich. Gesamtgesellschaftlich auch eine bessere Entlohnung für jegliche Arbeit in der Behindertenhilfe. Durch ein freiwilliges Engagement einzelner Menschen in unserer Gesellschaft kann eine Sensibilisierung für die Behindertenhilfe stattfinden. In welchem Rahmen dieses Engagement stattfindet, kann individuell entschieden werden.
SeitenWechsel: Welche guten Seiten hat die Situation im Moment? Was könnte positives daraus entstehen?
Michael Koza: Trotz der aktuellen Krise versuchen wir Mitarbeiter*innen die Ruhe zu bewahren. Größtenteils gelingt dies auch. Erfahrungsgemäß zeigt sich, je entspannter die Mitarbeiter*innen im jeweiligen Dienst sind, desto entspannter sind auch die Menschen, die hier leben. Trotz der Krise versuchen wir Mitarbeiter*innen den Bewohner*innen die aktuelle Lage in ruhiger Form zu vermitteln und ihnen ggf. auch den aktuellsten Stand zu schildern und korrekte Verhaltensweisen, wie beispielsweise das häufigere Waschen der Hände, aufzuzeigen.
Die Kreativität der individuellen Freizeitgestaltung hat außerdem zugenommen. Hier werden krisenbedingt mögliche Potenziale entdeckt, die wir auch nach der Bewältigung der Krise beibehalten möchten. Beispielsweise ist seit einigen Jahren jeden Freitag hier im Appartementhaus der sogenannte „Milchreistag“. Im Normalfall kommt Freiwillige M. und kocht für das gesamte Haus Milchreis. Dies ist mittlerweile auch ein fester Bestandteil für die Bewohner*innen. Aufgrund der Corona-Pandemie ist dies momentan nicht möglich. So hat sich eine Bewohnerin dafür entschieden, diesen Tag aufrechterhalten zu wollen und kocht seitdem zusammen mit den Mitarbeiter*innen den Milchreis für das gesamte Haus. Dazu gibt es einen leckeren Salat.
Des Weiteren haben wir aktuell die Zeit und auch die Möglichkeit besser auf die individuellen Bedürfnisse der hier lebenden Menschen einzugehen. Im vorherigen Alltagsgeschäft war dies auch gegeben, allerdings in einem etwas mehr von Stress geprägten Rahmen.